Sehr geehrter Herr Lorino, Sie führen die Naturpraxis „Kangitanka“ für Naturcoaching & Potenzialentfaltung in Heidelberg und Wolfach (Baden-Württemberg). Bitte stellen Sie sich und Ihr Tätigkeitsfeld einmal kurz unseren Lesern vor. Ich bin Naturcoach, Wildnistrainer und psychologischer Berater, betreibe ein Seminarhaus in Wolfach im Schwarzwald (Das Wandelhaus) und halte dort und in Heidelberg unter dem Namen „Naturpraxis Kangitanka“ Naturcoachings und Einzelsitzungen ab. Naturcoaching, ACT, Schattenarbeit und Ethnomedizin sind die vier Säulen, auf denen meine Arbeit ruht. Dabei sind die einzelnen Elemente nicht wirklich zu trennen, sondern fließen alle in die Sitzungen ein, mal mehr, mal weniger. Naturcoaching, wie ich es verstehe, vereint die Grundsätze „Natur heilt“ und „Natur lügt nicht“. Dazu erzähle ich später etwas mehr. ACT ist die Abkürzung von Akzeptanz- & Commitment-Therapie. Diese Fusion aus verhaltenstherapeutischen und fernöstlichen Elementen geht davon aus, dass wir durch das Vermeiden von Leid das eigentliche Leid festhalten und sogar zusätzliches Leid kreieren. Es geht darum, den Augenblick zu akzeptieren, wie er ist, um das zu tun, was uns wichtig ist. Dieser Ansatz wurde seit den 1980er Jahren in den USA entwickelt und seitdem wiederholt wissenschaftlich überprüft und als wirksame Therapieform anerkannt. In der Schattenarbeit geht es darum, all das zu erkennen, was wir an uns verneinen und wie wir es mit hohem Energieaufwand versuchen zu unterdrücken. Wenn wir den Kampf beenden können wir unseren Schatten wieder integrieren, satt ihn auf unser Umfeld zu projezieren. Wir sind so vielfältig und jede Schattenseite birgt ein unerlöstes Potential, das gelebt werden kann und neue Möglichkeiten öffnet. Ethnomedizin beinhaltet schließlich die Lehre der Heilmethoden der Naturvölker aller Kontinente und auch unserer keltogermanischen Wurzeln. Dazu zählen schamanische Techniken und Weltbilder, Seelenarbeit, Rituale, Kräuterkunde, Mythologien, Symbolarbeit u.v.m. Ich achte dabei immer auf einen sehr praktischen Bezug und möchte niemanden zu etwas bekehren, was ihm nicht stimmig erscheint. Ethnomedizin ist als Einladung zu verstehen, die Welt aus archaischen Blickwinkeln zu sehen und Kontakt zum Unbewussten aufzunehmen. Seit wie vielen Jahren sind Sie bereits in Ihrem Beruf tätig, und was hat Sie dazu bewegt ihn zu ergreifen? Angefangen habe ich 2008 mit einer ethnomedizinischen Praxis und seit 2009 entwickelt sich das Naturcoaching als stetiger Prozess. Es war tatsächlich schon seit Jahrzehnten ein Traum von mir, so zu arbeiten, wie ich es jetzt tue. Die Liebe zu den Menschen treibt mich dabei an. Allerdings musste ich erst durch eigene Prozesse gehen: Sieben Monate habe ich in der Wildnis der Dolomiten nur mit den einfachsten Mitteln gelebt. Ich bin hinausgegangen, um die Natur zu lieben. Doch habe ich dort auch erkannt, wie sehr mir die Menschen mit all ihren „Fehlern“ und Eigenheiten am Herzen liegen. Schließlich riss mich ein Bergbach beinahe in den Tod. Das hat mich gelehrt, das Leben selbst zu lieben. Spätestens seitdem war mir bewusst, dass ich nicht in der Generalprobe bin, sondern in der Aufführung, und dass jetzt die Zeit ist, das zu geben, was ich geben kann. Ein wesentliches Element Ihrer Arbeit ist das „Naturcoaching“. Sie sagen, die archaische Kraft und Weisheit der Natur hilft uns Antworten auf Fragen zu finden, sich zu spüren und ganz auf der Erde anzukommen. Können Sie uns Ihre Form des „Naturcoachings“ etwas genauer vorstellen? Ich gehe davon aus, dass die Natur nicht lügt. Auf einer kleinen Wanderung kann man viel entdecken und eine Menge über sich selbst lernen – ob uns die Verletzungen der Bäume unsere eigenen Wunden vor Augen führen, die Zäune der Weiden zeigen, wie wir uns von unsichtbaren Verboten ausgrenzen lassen, ein vorwitziger Kirschbaum im Fichtenwald Mut macht, wir selbst zu sein oder ein modriger Ast daran erinnert, dass wir sogar Leben und Tod kontrollieren wollen. Jeder Mensch entdeckt beim Naturcoaching seine ganz eigenen Botschaften. Ich begleite solch einen Spaziergang und helfe mit Gesprächen, Übungen und Ritualen das Erlebte zu verstehen und zu integrieren. Das ist auch in der Stadt möglich, sogar in geschlossenen Räumen. Der moderne Mensch scheint vergessen zu haben, dass auch er Natur ist. Beim Naturcoaching geht es um die Wiederverbindung von Mensch und Natur. Das bedeutet nicht, dass man ökologisch verantwortungsvoller oder wie ein Eingeborener leben sollte. Im Gegenteil, es geht darum, die Natur und ihre Strukturen und Aspekte überall zu sehen. Dazu zählen nicht nur Wald und Wiese, sondern sogar beispielsweise das Wasser, das aus der Leitung kommt und uns etwas über das Fließen lehren kann. Das Hier und Jetzt und die Akzeptanz dessen, was ist, sind ebenfalls Aspekte der Natur, weshalb Achtsamkeit, Akzeptanz und Wahrnehmung ein großes Thema im Naturcoaching sind. Die Philosophie des Naturcoachings lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Ganz gleich, wer ich bin, hier und jetzt, in diesem Augenblick spüre ich den Boden unter meinen Füßen, den Regen auf meiner Haut, mit all meinen Gefühlen, mit all meinen Gedanken – weil ich mich dazu entschieden habe, dass es mir wichtig ist.“ Wo sehen Sie die besonderen Stärken von Naturcoaching? Welche Beschwerden, Probleme oder Anliegen können hiermit angegangen werden? Für wen ist es besonders geeignet? Die besondere Stärke des Naturcoachings liegt meiner Meinung darin, dass die Menschen, die zu mir kommen, selbst ihre Antworten finden und niemand Ihnen sagt, wie sie leben sollten. Die Natur spiegelt den Menschen wider und nimmt ohne Urteil alles und jeden so, wie er ist. Alles und jeder hat seinen Platz und seinen Sinn – es geht nur darum, sich selbst zu leben. Naturcoaching kann daher bei folgenden Themen unterstützend wirken:
| Naturcoaching ist für jeden geeignet, solange er bereit ist, sich auf den Prozess einzulassen. Man muss keine Outdoor-Erfahrung haben, nicht meditiert haben und noch nicht mal barfuß gelaufen sein. Natur ist für jeden da. Selbstverständlich ersetzt Naturcoaching keine Therapie bei einem Arzt oder Therapeuten. Wie gestaltet sich ein Naturcoaching? Wie läuft es ab? Ein Naturcoaching ist sehr vielgestaltig. Es findet in erster Linie in der Natur statt. In Heidelberg möchte ich wenigstens einen Teil der ersten Sitzung in den zur Verfügung stehenden Räumen abhalten, da ich es sehr gut verstehen kann, dass man sich nicht unbedingt gerne mit einem Unbekannten mitten im Wald verabredet. Es hängt zudem vom Anliegen des Klienten ab, ob wir in den Räumen bleiben oder raus in die Natur gehen. In der Natur betritt der Besucher den eigenen „Seelenraum“, also quasi sein Innenleben und lässt sich von seiner Intuition leiten, oder geht einfach dahin, wo er hin will. Auf dieser Reise begegnen uns alle Themen: Vergessenes, Trauriges, Fröhliches, Tiefes – eben das, was den Menschen bewegt. Ich übernehme dabei nur die Rolle des Begleiters und helfe, das Erlebte zu spiegeln, zu verstehen und in Kontext zu setzen. Gespräche, Rituale und Übungen unterstützen dabei den Prozess. Abschließend schauen wir gemeinsam, wie sich das Erlebte in den Alltag integrieren lässt. Können Sie uns vielleicht an einem Beispielfall verdeutlichen, wie sich ein Naturcoaching auf einen Menschen auswirken kann? Es gibt so viele Beispiele und viele Rückmeldungen, dass die Sitzungen teilweise noch Jahre nachwirken. Naturcoaching wirkt sich immer in dem Maße aus, wie der Mensch bereit ist, seinen Weg in seinem Tempo zu gehen. Einer der eindrücklichsten Fälle war eine junge Frau, die ihren kranken Großvater pflegte und große Angst hatte, ihn zu verlieren. Auf ihrer Wanderung brauchte sie eine Weile, sich an einer Weggabelung zu entscheiden, wo ihr Weg lang geht, bis sie erkannte, dass es nur eine Möglichkeit gibt, es herauszufinden: Sie ging einfach in eine Richtung (und musste sich noch nicht mal an einen Weg halten) und stieß nach einiger Zeit auf einen Grabstein mitten im Wald. Auf diesem Stein stand nur ein Vorname, der Nachname war unleserlich. Es war der Vorname ihres Großvaters. Sie entschied sich dafür, die Zeit zu nutzen und mitten im Wald, ganz geschützt, liebevoll und in vollen Ehren von ihrem Großvater Abschied zu nehmen. Es war ein sehr berührender Augenblick und sie konnte danach ganz anders, viel bewusster und herzlicher ihrem Großvater in seinen letzten Tagen begegnen. Mit welchen Ambitionen kommen die Menschen in Ihre Praxis? Viele Menschen kommen, weil sie die Natur lieben und gerne draußen sind. Andere fühlen sich vom Konzept des Naturcoachings angesprochen. Manche aber wollen einfach mal „was Neues ausprobieren“ und erhoffen sich Impulse für ihr Leben. Die Themen, die sie mitbringen, sind so bunt, wie wir Menschen es eben sind. Sie bieten auch verschiedenste Seminare wie z.B. „Elemente spüren“, „Die Queste – Abenteuer Selbst“, „Der Wald – Eine Reise zum Ich“ oder auch „Intuition – Die innere Stimme“ an. An wen richten sich diese Seminare? Welche Voraussetzungen sollte man mitbringen? Alle meine Seminare richten sich an Menschen, die Freude an der Natur haben, sich selbst neu entdecken wollen und neue Impulse und Erfahrungen aus dem Inhalt, aber auch aus der Gruppe nach Hause nehmen wollen. Die Seminare sind mitunter sehr erlebnisreich und intensiv. Für manche Outdoor-Seminare wie die Queste ist eine normale Kondition erforderlich, ansonsten braucht man aber keine Vorkenntnisse weder fachliche, noch spirituelle, noch Seminarerfahrung. Jung und alt sind herzlich willkommen. Weshalb glauben Sie, suchen immer mehr Menschen auch Unterstützung im Bereich der alternativen Heilmethoden? Ich glaube, dass immer mehr Menschen Eigenverantwortung übernehmen wollen und sich die Frage stellen, wie die Dinge zusammenhängen. In einem vernetzten Zeitalter ist das eine berechtigte Frage: Wenn wir ein System an irgend einer Stelle verändern, kann dieser Eingriff Einfluss auf alle anderen Bestandteile haben. In der Natur ist ebenfalls alles mit allem verbunden und wie der Mensch mittlerweile gemerkt hat, sind Eingriffe in die Natur nie ohne Folgen und der Mensch nicht isoliert von ihr zu sehen. Die Menschen von heute sind für Vernetzungen immer stärker sensibilisiert und wünschen sich somit ein ganzheitliches Erkennen und Behandeln ihrer Sorgen. Mir gefällt das Bild, dass ein dunkler Raum von der modernen Wissenschaft mit einer hellen Taschenlampe untersucht wird, während die Religion bzw. die Spiritualität mit einem Kerzenlicht den ganzen Raum diffus erhellt. Die Taschenlampe lässt kleinste Details erkennen, aber das Gesamtbild aus den Augen. Die Kerze hingegen lässt das Gesamtbild erahnen, doch die Details nicht erkennen, was zu Illusionen führen kann. Der ständige Austausch zwischen diesen Sichtweisen ist entscheidend, um sich ein Bild, von dem zu machen, was sich tatsächlich im Raum befindet. Ein Beispiel aus der Pflanzenheilkunde: Die Einnahme eines isolierten pflanzlichen Wirkstoffs ist medizinisch wirksam, doch gibt es in Pflanzen ebenso komplexe Zusammenspiele von verschiedenen anderen Stoffen, die wir nicht kennen, es gibt womöglich ein Wesen der Pflanze und eine Information, wie sie von der Homöopathie genutzt wir. Wenn wir, aus was für Gründen auch immer, einzelne Aspekte absichtlich außer Acht lassen, beschneiden wir uns freiwillig der Möglichkeiten, die wir haben. Was ist Ihnen wichtig im Umgang mit Ihren Klienten? Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch und genieße es, meinen Klienten auf Augenhöhe und mit Herz zu begegnen. Nur er kennt seinen Weg und ich möchte ihn darin unterstützen, seine eigenen Antworten zu finden. Ich möchte die Klienten gerne einladen, den Mut zu haben zu blühen, damit sie die ganze Welt mit ihrem ganz eigenen Geschenk bereichern können. Du selbst bist das Wunder, auf das Du wartest. Was lieben Sie besonders an Ihrer Arbeit? Die wache Neugierde in den Augen von Menschen, die sich und ihre Welt neu entdecken. Außerdem liebe ich es, Zeuge zu sein, wenn sich die Klienten der Natur zuwenden, mit ihr in Kontakt gehen und authentisch werden. Naturcoaching ist trotz meiner Erfahrung auch für mich immer wieder überraschend, da immer wieder etwas Unvorhergesehenes geschehen kann, etwa wenn ein Bussard neben uns landet, oder nach der Lösung eines Themas ein Regenbogen am Himmel erscheint. Es ist für mich immer wieder berührend und eine große Ehre, wenn ich für nur kurze Zeit am Seelenleben der Menschen teilhaben kann. Ihr Lebensmotto in einem Satz? Genieße das Wunder, hier und jetzt auf diesem Planeten zu sein. Wir bedanken uns ganz herzlich für das Interview! |
Naturcoaching - In der Natur sich selbst begegnen
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