Was genau kann man sich unter dem therapeutischen Ansatz „Arbeiten mit dem Inneren Kind“ vorstellen? Was ist das „Innere Kind“ in mir, und wie kann ich mit ihm arbeiten?
Der Begriff Inneres Kind dient uns als Bild und Metapher für die Gesamtheit aller kindlichen Erfahrungen. Wobei hier die Erfahrungen, die wir mit uns selbst machten von höchstem Wert sind. Letztlich geht es hier um die Wiederbelebung vergessener und entwöhnter Glücksgefühle, wie wir sie in unseren frühen Jahren als Kredit mit auf den Weg bekommen haben.
In der Tat wird offenbar jeder Moment unseres Lebens in uns gespeichert, wobei zunächst nur ein geringer Teil erinnert werden kann. Zumal, als gerade die unangenehmen und schmerzhaften Erfahrungen unbewusst verdrängt werden, um nicht ständig damit konfrontiert zu sein. Allerdings werden in dieser dauernden Verdrängung dann auch die positiven Erfahrungen ausgeblendet.
Wir wissen seit Langem, dass unsere belastenden Gefühle und Emotionen des Alltags überwiegend aus der frühen Kindheit stammen. Auch unter besten familiären Voraussetzungen kann sich ein Kind vernachlässigt, verängstigt und verletzt fühlen und bräuchte im Grunde jeweils zeitnah eine liebevolle, verständnisvolle Atmosphäre, um diese Situation verarbeiten zu können. Ist dies aber nicht der Fall, werden solche Überforderungen als nicht gelöste Traumata in unserem körperlichen Erfahrungsgedächtnis 'zur Seite geschoben'.
In einem gegenwärtigen Konflikt sind wir nun mit solchen unverarbeiteten Überforderungen vergangener Zeiten konfrontiert, ohne uns dessen gleich bewusst zu sein. In der Arbeit mit dem Inneren Kind werden solche Erfahrungen aufgegriffen, wobei die momentane Problematik meist den direkten Einstieg bietet.
In der therapeutischen Begleitung haben Sie nun die Möglichkeit, sich ganz bewusst solchen verdrängten Erlebnissen zuzuwenden. Sie können die Erfahrung machen, beides in einem zu sein, der jung gebliebene, schutzbedürftige, kindliche Teil in Ihnen - und ebenso der fürsorglich verständnisvolle Erwachsene. Auf diese Weise erfahren Sie Entlastung in doppelter Hinsicht: Zum Einen können verdrängte, schmerzliche Erfahrungen allmählich abheilen und zum Anderen erleben Sie im Alltag die bisher belastenden Situationen weniger bedrohlich. Denn Sie bringen ein schwieriges Gefühl nicht mehr wie sonst, mit Ihrem Gegenüber in Verbindung. Zudem erfahren Sie immer mehr ein befreiendes Sein, weil Sie anfangen, sich liebevoll um sich selbst zu kümmern. Das löst vielerlei Abhängigkeiten und Ängste und erleichtert ihre Aufarbeitung.
Diese veränderte innere Ausrichtung ist gut zu vermitteln und kann in relativ kurzer Zeit erlangt werden. Die Arbeit mit dem Inneren Kind ermöglicht eine Erhöhung der emotionalen Kompetenz und setzt Kraft und Kreativität frei.
Für wen, würden Sie sagen eignet sich diese Therapieform besonders? Welche Beschwerden, Probleme oder Anliegen kann ich mit dieser Therapieform angehen?
Weil diese Methode gerade im Kontext von Beziehungen heilend wirkt, kann sie in allen Fällen zwischenmenschlicher Probleme als sehr effektiv angesehen werden. Als soziale Wesen können wir davon ausgehen, dass jedes Problem im Grunde ein Beziehungsproblem ist, auch und vor allem, wenn man mit sich selbst ein Problem haben sollte.
Unter Umständen muss diese Therapieform aber noch durch andere ergänzt werden. Bei starken Traumatisierungen etwa wäre eine schonende Traumatherapie voranzustellen, oder im Falle existenzieller Lebenskrisen, eine Ressourcen schaffende Unterstützung, bevor mit dem Inneren Kind gearbeitet wird.
Können Sie uns vielleicht von einem Beispielfall berichten, und wie sich diese Behandlungsform für diese Person ausgewirkt hat?
Eine junge Lehrerin Anfang dreißig erzählt mir von ihrem „überzogenen Perfektionismus“ und ihrer Schwierigkeit, sich auf Menschen, insbesondere auf Männer, einzulassen. Sie fühle sich einsam und unverstanden. Auch habe sie zeitlebens das Gefühl, nicht richtig zu sein.
In der therapeutischen Arbeit fand sie rasch Zugang zu ihrem damaligen Lebensgefühl, das sie in ihrer Herkunftsfamilie zur Zeit ihrer Einschulung empfand. Das Klima zwischen ihren Eltern sei sehr angespannt gewesen und insbesondere ihr Vater habe dauernd an ihr, wie auch an ihrer Mutter, herumgenörgelt. So konnte die Klientin in den Sitzungen die verschiedensten Gefühlszustände ihres Aufwachsens erforschen und bewusst durchleben. Wobei es nun darum ging, in einer liebevoll tröstenden, erwachsenen Haltung den Schmerz der Kleinen zu 'empfangen'. Ihr sozusagen heute das zu geben, was sie damals gebraucht hätte.
Die kleinen, behutsamen Schritte der Aufarbeitung machten immer mehr konkrete Erinnerungen möglich. Das verhalf ihr wiederum zu weiterem Verständnis und noch tieferer Empathie sich selbst gegenüber. Im gleichem Maße kamen dann auch negative, bzw. eben destruktive Gedanken zur Ruhe, was ihr Selbstbild und die Wahrnehmung ihrer Mitmenschen positiv veränderte. Letztlich konnte sie dann sogar auch ihre verspielte Leichtigkeit wiederentdecken und sie mit in ihre zwischenmenschlichen Begegnungen nehmen.
Sie sagen: „Das Unterbewusstsein hält grundwegs seine natürliche Selbstheilungstendenz für uns bereit“. Können Sie uns das genauer erläutern?
Dies gilt generell für eine ganze Reihe klientenzentrierter therapeutischer Ansätze, die als nondirektiv gelten. Hier ist dann auch der Begriff 'TherapeutIn' fast schon nicht mehr passend, weil der Grundsatz darin liegt, dass die in der Begegnung notwendige Empathie nur möglich werden kann, wenn sich beide auf einer Ebene begegnen. Also keine Vorstellung von Hierarchie dazwischen steht. Die TherapeutIn ist sich bewusst, dass sie eine passende Lösung nicht wissen kann, egal über welchen Erfahrungsschatz sie auch verfügt. Jede Begegnung ist als einzigartig zu erleben und von dem Wunsch getragen, die Welt des Anderen vollständig durch dessen Augen sehen zu können.
Genau diese Haltung ermöglicht dem/der Hilfesuchenden nun aber ein Klima von angenommen Sein und vertraut Sein, wodurch unbewusste Widerstände aufgegeben werden können. Widerstände gegen das eigene Selbst, meist aus Angst vor Ablehnung irgendeiner Art. Im philosophischen Sinne wird hier ein Raum der Liebe geschaffen.
Übrigens liefert die moderne Hirnforschung dazu immer genauere Erklärungen, auf welche Weise das Kongruenzgefühl, das Gefühl der Stimmigkeit, den Menschen in jeder Hinsicht heil werden lässt.
Während in vielen Bereichen der klinischen Medizin und Psychiatrie das Symptom noch im Vordergrund steht, geht es hier immer um den Menschen als Ganzes, als das was wir wirklich sind: Fühlende und mit-fühlende Wesen.
Was lässt nach Ihrer Meinung ganz allgemein gesprochen eine therapeutische Begleitung erfolgreich werden?
Nun, wie auch Ihre Plattform zum Ausdruck bringt, liegt die Herausforderung darin, aus dem Gleichgewicht geratene 'Anteile' sozusagen wieder herein zu lassen. Das betrifft praktisch alle Bereiche. Ein Spezialist beispielsweise kann sich in seinem Fachgebiet völlig verlieren und dabei den Gesamtzusammenhang vergessen. Diese Neigung ist in unserer modernen Welt sicherlich einer der Hauptgründe für den zunehmenden Verlust innerer Bindung, der sich dann letztlich auch körperlich auswirken kann. Es wird mittlerweile davon ausgegangen, dass 80% aller körperlichen Beschwerden seelischer Natur sind.
In diesem Sinne haben Therapeut wie Klient dieselbe Übung vor sich: Wird das angesprochene Problem immer weiter behandelt und auf diese Weise vertieft, ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich nichts ändert. Im Idealfall gerät 'das Problem' in Vergessenheit, wenn die Ganzheit des Menschseins wiederhergestellt ist. Um dieses möglich zu machen ist Fachkenntnis zweifellos sehr von Vorteil, doch dieses allein wäre nur die Hälfte.
Es hieße also für beide, sich vollständig aufeinander einzulassen und weder von oben herab, noch von unten herauf zu blicken. Das Klima dieser Beziehung wiegt sogar weit mehr, als das gewählte Verfahren. Vertrauen, Respekt und Ehrlichkeit bestimmen die Rahmenbedingungen, innerhalb derer etwas entstehen kann, was niemand wissen kann. Wie die Erfahrung zeigt, macht es jedoch Heilung möglich.
Wir bedanken uns ganz herzlich für das Interview!